Die vielfältigen Migrationsgeschichten, welche die Kinder erzählten, waren sehr eindrücklich und führten zu emotionalen Momenten im Unterricht.
Emotionale Momente im Unterricht
Interview mit Varinia Hassler, Lehrerin in Chur
Die engagierte Lehrerin Varinia Hassler unterrichtet eine 2. Klasse im Schulhaus Daleu in Chur. Mit dem Streichholzschachtel-Tagebuch, einer Unterrichtssequenz auf migrationsgeschichte.ch, ermunterte sie die Kinder, über Migration nachzudenken. Dabei kamen auch emotionale Auswanderungsgeschichten aus der eigenen Familie zur Sprache.
Interview: Bigna Sommer-Sutter
Varinia, wie setzt du das Streichholzschachtel-Tagebuch im Unterricht ein?
Varinia Hassler: In einem ersten Schritt habe ich den Kindern das Bilderbuch «Streichholzschachtel-Tagebuch» erzählt. Und das in mehreren Etappen: Während einer Woche habe ich jeden Tag einige Seiten vorgelesen. Wir haben täglich repetiert, was jeweils in den Streichholzschachteln war und uns während des Vorlesens immer wieder ausgetauscht. Die Kinder haben von ihren Eltern und Grosseltern erzählt und viele Fragen zur damaligen Zeit gestellt.
Wie hat dich migrationsgeschichte.ch dabei unterstützt?
Nachdem ich das Buch vorgelesen hatte, arbeitete ich mit den Unterrichtsvorschlägen von migrationsgeschichte.ch. Zum Einstieg habe ich jeweils das Buch gezeigt und manchmal noch einmal eine Situation daraus geschildert. Damit haben wir immer wieder eine Verbindung zur Geschichte geschaffen. Ich arbeite einmal pro Woche etwa eine Stunde zu diesem Thema.
Welche Auswanderungsgeschichten haben die Kinder erzählt?
Einige Kinder aus der Klasse haben Eltern, die im Ausland aufgewachsen sind und als Kind oder junge Erwachsene in die Schweiz gekommen sind. Die meisten Kinder sind schon in der Schweiz geboren. Ein Junge hat erzählt, dass sein Vater in einem anderen Land aufwuchs und damals keine Spielzeuge besass, da Krieg herrschte. Als er dann in die Schweiz kam, konnte er noch kein Deutsch und musste die Sprache zuerst lernen.
Ein Mädchen hat von ihrem Grossvater erzählt, der in einem anderen Land wohnt. Sie hat ihn noch nie getroffen und kennt ihn nur übers Telefon und Videoanrufe. Eine weitere Schülerin ist in einem anderen Land geboren und gelangte zusammen mit ihren Eltern per Flugzeug in die Schweiz, da ihr Vater hier eine gute Arbeit gefunden hatte. Dann gab es auch Fluchtgeschichten: Ein Junge war noch ein Baby, als seine Eltern flüchten mussten. Sie hatten eine lange Reise, bis sie in der Schweiz ankamen. Die vielfältigen Migrationsgeschichten, welche die Kinder erzählten, waren sehr eindrücklich und führten zu emotionalen Momenten im Unterricht.
Gab es besonders schöne oder emotionale Momente?
Als wir unsere Familien in einem Stammbaum darstellten, kam die Frage auf, ob man auch die Personen malt, die schon gestorben sind. Ein Mädchen hat erzählt, dass sie einen älteren Bruder gehabt hätte, der aber schon im Bauch der Mutter gestorben sei. Die Kinder waren sehr offen und haben auch von ihren Vorstellungen, was mit den Gestorbenen passiert, erzählt. Beim Thema «Briefe schreiben» haben die Kinder sich gegenseitig Briefe geschrieben. Sie freuten sich sehr über die Worte der anderen Kinder – ein sehr schöner Moment.
Was hat dich persönlich berührt?
Während ich meinen Schülerinnen und Schülern die Geschichte erzählte, war es eindrücklich, wie die Kinder mit dem Mädchen in der Geschichte mitgefühlt haben. Auf Fragen, wie sich der Vater oder die Familie fühle, konnten sie die Gefühle gut beschreiben und sich in deren Situationen hineinversetzen.
Würdest du das Streichholzschachtel-Tagebuch weiterempfehlen?
Auf jeden Fall! Migrationsgeschichte.ch hat mir viele Ideen gegeben, was man alles zu diesem Bilderbuch machen kann. Es gibt so viele Themen, an die man anknüpfen kann, auch fächerübergreifend. Migrationsgeschichte.ch gibt mir einen roten Faden, wie ich die verschiedenen Themen über längere Zeit anwenden kann. Auch die Arbeitsblätter und Leitfäden der Teilthemen sind super: Sie geben mir einen guten Überblick. Die Website ist insgesamt sehr vielfältig und gut aufgebaut!
Unterrichtssequenz: Das Streichholzschachtel-Tagebuch
Im Gespräch zwischen einem etwa 5-jährigen Mädchen und seinem Grossvater wird im Bilderbuch «Das Streichholzschachtel-Tagebuch» ein eindrückliches Schicksal erzählt. Die Geschichte beinhaltet alle Phasen eines Migrationsprozesses: die Motive der Auswanderung, die Zeit der Vorbereitung, den Aufbruch, die Reise, das Ankommen und den Existenzkampf im neuen Land. Im Unterricht befassen sich die Kinder auch mit der eigenen Familiengeschichte.