1991-2001: Annäherung an Europa

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nähern sich die europäischen Länder einander an: Seit 1993 gibt es den Vertrag von Maastricht über die Europäische Gemeinschaft mit dem die «vier Grundfreiheiten» festgelegt werden: den freien Verkehr von Waren, von Dienstleistungen, von Personen und von Kapital (Geld). Und dank dem Schengen-Abkommen muss man an den innereuropäischen Grenzen keinen Pass mehr vorweisen. Die Schweiz steht unter Druck, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.

1991: Das Drei-Kreise-Modell

1991 führt die Schweiz das sogenannte «Drei-Kreise-Modell» ein. Dieses ist eine Antwort auf die veränderte Zusammensetzung der Zuwanderer und spiegelt den Wunsch, sich an die Europäische Gemeinschaft anzunähern, ohne ein direktes Mitglied zu werden. 

Das Drei-Kreise-Modell bedeutet, dass Zuwanderer je nach ihrem Herkunftsland in einen von drei Kreisen eingeteilt werden, und damit verschiedene Einreise- und Aufenthaltsrechte bekommen: 

1. Der innere Kreis: Dieser bezieht sich auf Menschen aus der Europäischen Gemein¬schaft (EG) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Schweizer Unternehmen sollen Menschen aus diesem Kreis anstellen, sie erhalten eher eine Arbeitsbewilligung. 

2. Der mittlere Kreis: Dieser umfasst Länder wie Kanada oder die USA, die ähnlich wie die Schweiz funktionieren, die gute Handelbeziehungen mit der Schweiz pflegen oder die traditionelle Herkunftsländer für Arbeitsmigranten sind wie das ehemalige Jugoslawien. 

3. Der äusserste Kreis: Dieser bezieht sich auf alle anderen Staaten, die nicht in den zweiten Kreis aufgenommen werden. 

Dieses Modell schafft es, zwei Seiten zu beruhigen: die Unternehmen, welche ausländische Arbeitskräfte benötigen, und jene Parteien, die Angst vor einer «Überfremdung» haben. Gleichzeitig gelingt es dem Bundesrat mit dieser neuen Migrationspolitik, die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft nicht in Gefahr zu bringen.

1992: Europäischer Wirtschaftsraum: Nein!

Das abgebildete Plakat nennt die Argumente der siegreichen Gegner: Die Verschacherung unseres Landes an ausländische Politiker, Lohnabbau, Bedrohung der Landwirtschaft und Überfremdung gehören dazu. 

Quelle: Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek Bern / AUNS, www.auns.ch

1992 stimmen die Schweizer darüber ab, ob die Schweiz dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten soll. Dieser Beitritt würde es unter anderem allen Menschen aus dem Europäischen Wirtschaftsraum möglich machen, überall in Europa, also auch in der Schweiz, eine Arbeit anzunehmen (freier Personenverkehr). Auch würde in der Schweiz das Saisonnier-Statut abgeschafft. Nach einem heftigen Abstimmungskampf stimmen 50,3% ganz knapp gegen den Beitritt der Schweiz.

1993: Änderung des Bürgerrechts

Im Jahr 1992 wird das Bürgerrechtsgesetz überarbeitet. In der neuen Fassung erlaubt die Schweiz zum ersten Mal die Doppelbürgerschaft. Das bedeutet, dass ein Zuwanderer, der sich in der Schweiz einbürgern lässt und einen Schweizer Pass bekommt, seine bisherige Staatsbürgerschaft des Heimatlandes nicht verliert. Dies gilt übrigens auch für die Schweizer, die den Pass eines anderen Landes bekommen. Für jene, die einen Schweizer oder eine Schweizerin heiraten, wird auf diese Weise die Einbürgerung erleichtert. Gleichzeitig findet allerdings jetzt keine automatische Einbürgerung der ausländischen Ehegattinnen von Schweizer Bürgern mehr statt. 

1993: Weltweite Flüchtlingsströme

Tipp: So vergrössern Sie das Bild: Rechtsklick auf dem Bild, dann "Bild in neuem Tab öffnen" oder ähnlich.

Weltweit führen Kriege und die Unterdrückung von Minderheiten zu grossen Fluchtbewegungen. In den 1990er Jahren werden auch in der Schweiz zahlreiche Asylgesuche gestellt. Viele der Flüchtlinge müssen in Zivilschutzanlagen untergebracht werden, obwohl diese Bunker sind zum Wohnen schlecht geeignet sind. Da jedes Gesuch einzeln beurteilt werden muss, dauern die Asylverfahren insgesamt sehr lange. Viele Flüchtlinge erhalten nur eine befristete Aufenthaltsbewilligung und sollen wieder in ihre Heimat zurückkehren, wenn sich dort die Lage beruhigt hat.

Die grössten Flüchtlingsgruppen kamen aus den folgenden Ländern:

Türkei: Die Kurd:innen sind ein Volk ohne eigenes Land und leben in der Türkei, in Irak, Syrien und Iran. In der Türkei bilden die Kurdinnen und Kurden eine grosse, jedoch unterdrückte Minderheit. Sie dürfen zu dieser Zeit nicht einmal ihre eigene Sprache sprechen. 1984 beginnen sie einen bewaffneten Kampf für ihre Freiheit. Der Bürgerkrieg dauert 15 Jahre, fordert viele Tote und führt zu grossen Fluchtbewegungen.

 

Sri Lanka: Während der britischen Kolonialherrschaft wurden die Tamilen in Sri Lanka gegenüber der Mehrheit der Singhalesen bevorzugt und in der Kolonialverwaltung eingesetzt. Nach der Unabhängigkeit 1948 kam es zu Diskriminierungen der Sri-Lanka-Tamilen durch die mehrheitlich von Singhalesen gestellte Regierung. Diese Diskriminierungen nährten seit den 1970er Jahren den Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung unter der tamilischen Minderheit. Dieser Konflikt weitete sich Anfang der 1980er Jahre zu einem Bürgerkrieg zwischen der Regierung Sri Lankas und den Rebellen der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) aus, der bis 2009 anhielt. Zahlreiche Tamilinnen und Tamilen flüchteten nach Europa, Amerika und Südostasien.

Somalia: Somalia ist eines der Länder mit der weltweit größten Bevölkerung an Flüchtlingen und Binnenvertriebenen. Gründe für die Flucht sind Dürre und Überschwemmungen, Hungersnöte und gewaltsame Konflikte unter verschiedenen Clans (Stämmen) und Minderheiten und damit zusammenhängend auch Terrorismus sowie Zwangsvertreibungen.

Jugoslawien: Nach dem Zerfall der Sowjetunion löste sich auch das kommunistische Jugoslawien in seine Teilrepubliken auf. Dies geschah allerdings nicht friedlich, sondern in den blutigsten Auseinandersetzungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In diesen Kriegen auf dem Balkan kam es zu verheerenden Völkermorden, Massakern und Kriegsverbrechen. Insgesamt waren über 200’000 Tote zu beklagen. Und die Kriege lösten gewaltige Fluchtbewegungen aus.

Mehr dazu unten im Eintrag für das Jahr 1998.

1994: Keine Erleichterte Einbürgerung für junge Menschen

1994 stimmen die Schweizer:innen über eine Initiative ab, die verlangt, dass junge Migrantinnen und Migranten erleichtert eingebürgert werden. Eine ähnliche Initiative wurde 1983 schon einmal abgelehnt. Erneut wird das Anliegen abgelehnt, es scheitert am «Ständemehr»: Obwohl sich eine Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für die Initiative ausspricht, wird sie abgelehnt, weil in vielen kleineren Kantonen das Nein überwiegt.

1995: Neu: arbeitslose Ausländer in der Schweiz

Der Schweizer Wirtschaft geht es ab 1991 wieder schlechter. In den 1990er Jahren kann sich die Wirtschaft für eine längere Zeit nicht weiterentwickeln. Zwar erleben einige Nachbarländer der Schweiz einen wirtschaftlichen Aufschwung dank der Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft und auch der Öffnung der osteuropäischen Staaten. Weil die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, kann sie nicht von diesem Wirtschaftsaufschwung profitieren. 

Die Schweiz erfährt in dieser Zeit ein noch nie gekanntes Phänomen: die Arbeitslosigkeit der Ausländer. Dank der Arbeitslosenversicherung müssen Ausländer nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie ihre Stelle verlieren.

1997: Vom Drei- zum Zwei-Kreise-Modell

Das Drei-Kreise-Modell (siehe Eintrag 1991) stösst schon bald auf Kritik: Einige finden, dass der dritte Kreis diskriminierend sei, also ungerechtfertigt abwertend. Das sagt die «Eidgenössische Kommission gegen Rassismus». Andere, besonders die Unternehmen, benötigen hochqualifizierte Menschen aus der ganzen Welt. Mit dem Modell wird es ihnen schwer gemacht, international Menschen anzuheuern. 

Als Folge wird das sogenannte «Zwei-Kreise-Modell» eingeführt. Der zweite und der dritte Kreis werden miteinander verbunden. Hier entscheidet jetzt nicht mehr die Herkunft, ob jemand eine Arbeitsbewilligung erhält, vielmehr ist es dessen Ausbildung. Gut ausgebildete Personen sollen eher in der Schweiz arbeiten dürfen. 

Ausserdem sucht der Bundesrat das Gespräch mit der Europäischen Gemeinschaft zum Thema Personenfreizügigkeit, also dem Recht, sich innerhalb Europas und somit auch von der Schweiz nach Europa und umgekehrt, frei bewegen zu können. Mit dem Wechsel vom Drei- zum Zwei-Kreise-Modell versucht die Schweiz sich der Europäischen Gemeinschaft anzunähern.

1998: Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien

Nach dem Zerfall der Sowjetunion löste sich auch das kommunistische Jugoslawien in seine Teilrepubliken auf. Dies geschah allerdings nicht friedlich, sondern in den blutigsten Auseinandersetzungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In diesen Kriegen auf dem Balkan kam es zu verheerenden Völkermorden, Massakern und Kriegsverbrechen. Insgesamt waren über 200’000 Tote zu beklagen. Und die Kriege lösten gewaltige Fluchtbewegungen aus.

Hier lesen Sie mehr zu den Kriegen in Ex-Jugoslawien.

Das Bild zeigt die Ankunft von Flüchtlingen in Chiasso 1998. 

Quelle: Keystone/Karl Mathis

In den Jahren 1998/99 versuchen innerhalb von zwei Jahren fast 50 000 Menschen aus Kosovo in die Schweiz zu flüchten und hier Asyl zu bekommen. 

Das sind so viele Flüchtlinge, dass sie in Zivilschutzanlagen untergebracht werden müssen. Unter Zivilschutzanlagen verstehen wir Räume, die eigentlich im Falle eines Krieges für die Bevölkerung zum Schutz vor z.B. Bombenangriffen oder ähnlichem gedacht sind.

Die Asylsuchenden bekommen jetzt eine «vorläufige Aufenthaltsbewilligung». Diese gibt ihnen das Recht, sich in der Schweiz aufhalten zu dürfen und nicht wieder in ihr Heimatland zurück zu müssen, solange dort Krieg herrscht. Sie erhalten aber mit dieser vorläufigen Bewilligung nicht den «Flüchtlingsstatus», so wie er in der Genfer Konvention von 1951 festgelegt ist, und der ihnen einen dauerhaften Aufenthalt sichern würde. 

Nachdem sich die Lage im Sommer 1999 im Kosovo beruhigt hat, sorgen die schweizerischen Behörden mit einem Rückkehrhilfeprogramm für die Rückkehr der Flüchtlinge. So verlassen die meisten Kosovarinnen und Kosovaren kurz nach Kriegsende wieder die Schweiz und kehren in ihre Heimat zurück – freiwillig, oder sie werden zurückgeschickt

2000: Annahme des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU

Im Mai 2000 nimmt das Schweizer Stimmvolk die bilateralen Verträge an, in denen auch die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union geregelt ist. Mit diesem Entscheid beginnt eine neue Epoche der Schweizer Migrationsgeschichte.

Gleichzeitig verwirft das Volk eine Initiative, welche die ausländische Bevölkerung auf 18% reduzieren will (Eidgenössische Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung»: 63,8% Nein, alle Stände lehnen ab).

 

.