1963-73: Versuche der Beschränkung

«Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.» So beschreibt der Schriftsteller Max Frisch die Schwierigkeiten mit der Migration im Jahr 1965. Tatsächlich wächst die Zahl der Zuwanderer in der Schweiz, und Italien fordert bessere Arbeitsbedingungen für die italienischen Saisonniers, die in der Schweiz arbeiten. Mehrere Volksinitiativen wollen die Zahl der Ausländer und Ausländerinnen in der Schweiz verringern. Die Industriebetriebe brauchen aber dringend Arbeitskräfte!

1963: Italienische Saisonniers werden ein wenig bessergestellt

1963 einigen sich die Schweiz und Italien auf ein neues Abkommen, das den Aufenthalt der Saisonniers in der Schweiz regelt. Durch das Abkommen mit Italien bekommen die Saisonniers nun automatisch eine Aufenthaltsbewilligung (B) nach 5 Jahren, wenn sie während dieser Zeit 45 Monate in der Schweiz gearbeitet haben. In dieser Zeit ziehen auch viele Familien zu ihren Angehörigen in die Schweiz und andere bekommen in der Schweiz weitere Kinder. Somit nimmt die ausländische Bevölkerung in dieser Zeit zu.

1964: Integrationsbemühungen und die erste Überfremdungsinitiative

1964 lanciert die Demokratische Partei des Kantons Zürich die erste Initiative gegen die «Überfremdung». Sie fordert darin eine starke Reduktion des Ausländeranteils von damals ca. 17% auf maximal 10%. Der Bundesrat hält diese Initiative für übertrieben, weil die Wirtschaft, um weiter zu wachsen, die ausländischen Arbeitskräfte dringend braucht. Er schlägt also einen Rückgang um 3% bis im Jahre 1968 und von 2% im Jahre 1969 vor. Daraufhin wird diese erste «Überfremdungsinitiative» zurückgezogen.

«Integration will gelernt sein»

Es kommt vor, dass Familien von italienischen Einwanderern in die Schweiz nachziehen. Da stellt sich die Frage: Wie sollen die fremdsprachigen Kinder in die Schule integriert werden? Im Juni 1964 befasst sich der Lehrerverein der Westschweiz mit dem Thema, die Schweizer Filmwochenschau berichtet darüber.

Quelle: Fremdarbeiter und Schule, Travailleurs étrangers: Schweizer Filmwochenschau (SFW) vom 05.06.1964 (Original: Signatur 1118-3, Cinématèque Suisse).

1968: Flüchtlinge aus Tibet (1963) und der Tschechoslowakei (1968) sind willkommen

Anteil der ständigen ausländischen Bevölkerung 1900-2015

Bundesamt für Statistik BFS, Migration und Integration – Indikatoren. 

Quelle: www.bfs.admin.ch

Flüchtlinge aus Tibet und der Tschechoslowakei

1963 waren ungefähr 1000 tibetische Flüchtlinge in die Schweiz gekommen. In ihrer Heimat gab es Krieg, ihr Land wird von China besetzt. Die Flüchtlinge wurden mithilfe der Vereinten Nationen in die Schweiz gebracht. In den darauffolgenden Jahren kommen noch weitere Flüchtlinge aus Tibet hinzu.

Fünf Jahre später, 1968, flüchten 12 000 Menschen aus der damaligen Tschechoslowakei (heute Tschechien und Slowakei) in die Schweiz. Sie flüchten, weil in ihrer Hauptstadt ein Aufstand der Bevölkerung (der «Prager Frühling») vom Militär und der kommunistischen Führung niedergeschlagen wird. Und wie schon bei den ungarischen Flüchtlingen (1956) bricht in der Schweiz eine Welle der Solidarität aus. Sogar die Kinder hängen Fähnchen mit dem tschechoslowakischen Wappen an ihre Velos und zeigen so, dass sie auf der Seite der Flüchtlinge stehen! Der Bundesrat öffnet ihnen denn auch die Türen.

1970: Wie Saisonniers in Baracken leben (Film)

Schweizer Filmwochenschau vom 20. Februar 1970 über «Fremdarbeiter»

Die Filmwochenschau berichtet über das Leben der «Gastarbeiter» in Baracken. Im Film wird gezeigt, wie bescheiden diese leben müssen, und es wird angedeutet, dass es ungerecht ist, diese Leute die schmutzigen Arbeiten erledigen zu lassen und sie dabei so schlecht zu behandeln.

Zum Filmausschnitt auf memobase.ch (1:41 Min.)

1970: Kampf der «Überfremdung»: Die «Schwarzenbach»-Initiative

Das Bild zeigt die Abstimmungsplakate der Gegner und der Befürworter der Initiative. Am 7. Juni 1970 lehnen die Schweizer Stimmbürger die «Schwarzenbach»-Initiative mit 54% Nein-Stimmen ab. 

Quelle: Keystone/Str

Die Zahl der Ausländer steigt weiter an, weshalb die «Nationale Aktion gegen eine Überfremdung von Volk und Heimat» eine neue Überfremdungsinitative lanciert. Sie wird nach ihrem Wortführer «Schwarzenbach-Initiative» genannt. James Schwarzenbach verlangt, dass nicht nur in der Schweiz insgesamt, sondern in jedem einzelnen Kanton der Ausländeranteil 10% nicht übersteigen darf. Genf wäre mit 25% die einzige Ausnahme.

Die Initiative löst heftige Diskussionen aus. Der Bundesrat ist wieder nicht einverstanden mit dem Vorschlag. Ihre Umsetzung würde bedeuten, dass 300 000 Menschen die Schweiz verlassen müssen. Drei Monate vor der Volksabstimmung im Jahre 1970 führt der Bundesrat stattdessen die «globale Kontingentierung» ein: Das heisst, dass jedes Jahr die Zahl der Arbeitsplätze, die durch ausländische Arbeitskräfte besetzt werden können, neu berechnet wird. In den Berechnungen soll berücksichtigt werden, wie viele Migranten schon im Land sind, wie viele das Land verlassen haben und wie viele benötigt werden. Auf diese Weise soll ein unkontrolliertes Wachstum der ausländischen Bevölkerung vermieden werden. Am 7. Juni 1970 lehnen die Schweizer Stimmbürger die Schwarzenbach-Initiative knapp mit 54% Nein-Stimmen ab.

1970: Interview "Die Schwarzenbach-Initiative" (Audio)

Diese Aufnahme von Radio DRS aus dem Jahr 1970 thematisiert die «Überfremdungsinitiative» kurz nach deren Ablehnung. Es kommen Betroffene zu Wort, und der Journalist Peter Wyss spricht mit dem Pfarrer und Betreuer von italienischen Gastarbeitern, Don Mario Slongo, darüber, wie sich die italienischen Gastarbeiter im Vorfeld dieser Abstimmung gefühlt haben. 

SRF / SR DRS, Sinerzyt Montag, 7.4.2008, Überfremdungsinitiative «Schwarzenbach» 

Mit freundlicher Genehmigung von Schweizer Radio und Fernsehen

1972: Die Einwanderung überwachen

Unter dem Druck der «Überfremdungsinitiativen» will die Regierung die Einwanderung besser überwachen und steuern. Zu diesem Zweck führt das Bundesamt für Ausländerfragen (BFA) das Zentrale Ausländerregister (ZAR) ein. Alle Saisonniers, alle Ausländer mit einer Aufenthaltsbewilligung B und einer Niederlassungsbewilligung C werden darin registriert. Auch der Beruf oder der Zivilstand werden festgehalten. Dieses Register gibt es noch heute – auch wenn es sich seither ein wenig verändert hat.

1973: Ölkrise - Die Schweiz exportiert die Arbeitslosigkeit

Am 17. Oktober 1973 beschliesst die «Organisation der erdölexportierenden Staaten» (OPEC), 5% weniger Öl in die anderen Länder zu verkaufen. Auf diese Weise möchten sie auf die westlichen Länder Druck ausüben, damit diese das kleine Land Israel nicht mehr unterstützen. Die arabischen Länder, die viel Erdöl besitzen, befinden sich im Krieg gegen Israel, weil dieses die arabischen Palästinenser vertrieben hat.

Aufgrund der so geschaffenen Knappheit wird das Erdöl immer teurer. Die betroffenen Industrieländer, zu denen auch die Schweiz gehört, müssen immer mehr Geld ausgeben um Erdöl kaufen zu können. Mit Erdöl wird nicht zur geheizt, es treibt auch die Maschinen in den Fabriken und die Lastwagen an und ist deshalb für die Produktion und die Beförderung der Güter wichtig. Diese Ölkrise führt zur ersten Wirtschaftskrise nach dem 2. Weltkrieg und zum Ende der «Trente Glorieuses» (siehe 1946).

Viele Menschen verlieren in dieser Wirtschaftskrise ihre Arbeitsstelle. Die ausländischen Arbeitskräfte sind davon am stärksten betroffen . Dafür gibt es drei Gründe:

1. Oft arbeiten die Migranten in Bereichen, die von der Wirtschaftskrise am härtesten getroffen sind.

2. Die Anstellung von Schweizern hat Vorrang. Dies bedeutet, dass zuerst die Ausländer und erst danach die Schweizer ihre Arbeitsstelle verlieren, und dass freie Stellen zuerst mit Schweizern besetzt werden. Die Fremdenpolizei stellt sicher, dass die Kantone diesen Vorrang überprüfen.

3. Die Arbeitslosenversicherung war nicht obligatorisch. Dies bedeutete, dass viele Arbeiter und Angestellte nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert waren.

Wenn die Ausländer keinen Arbeitsvertrag hatten, dann durften sie auch nicht länger in der Schweiz bleiben. Ausländer, die eine abgelaufene Aufenthalts- oder Saisonnier-Bewilligung haben, müssen also in ihr Heimatland zurückkehren.

In dieser Zeit steigt die Arbeitslosigkeit in der Schweiz nur von 0% auf 0,7% - obwohl so viele Arbeitsstellen verloren gingen. Dies war möglich, weil die arbeitslosen Ausländer aus der Schweiz ausreisen mussten. Die Schweiz schafft es dank dem 1945 eingeführten Rotationsprinzip, die Arbeitslosigkeit anderen Ländern zuzuweisen. Die Migranten dienen also als «Konjunkturpuffer». Dank ihnen leidet die Schweiz viel weniger unter wirtschaftlichen Schwankungen.